Nelkenstrauß statt Ehre für Sophie Henschel

Veröffentlicht von Administrator am 15.04.2024

HNA vom 15. April 2024

LEBENSERINNERUNGEN Fabrikantin setzte Maßstäbe im Unternehmen und in der Gesellschaft

Villen auf dem Weinberg: Die Familie Henschel lebte auf dem Weinberg. Die rechte Villa ließ Oskar Henschel 1871 erbauen, das Haus Henschel links daneben 1903 sein Sohn Karl. 1932 wurden die Häuser abgerissen. FOTO: SAMMLNG HORST HAMECHER
Villen auf dem Weinberg: Die Familie Henschel lebte auf dem Weinberg. Die rechte Villa ließ Oskar Henschel 1871 erbauen, das Haus Henschel links daneben 1903 sein Sohn Karl. 1932 wurden die Häuser abgerissen. FOTO: SAMMLNG HORST HAMECHER


Sophie Henschel (1841-1915) hat mit 71 Jahren ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Sie zeigen ein ganz privates Bild der Kasseler Fabrikantin.Wir veröffentlichen ihre Erinnerungen in Auszügen.

VON CLAUDIA FESER


Kassel – Die Lebenserinnerungen, die Sophie Henschel für ihre Kinder verfasst hat, sind chronologisch geordnet und so gestochen scharf wie das Schriftbild der damals 71-Jährigen.
Es war gerade vier Jahre her, dass sie sich aus den Geschäften der Lokomotivbaufirma Henschel & Sohn zurückgezogen hatte. Die Fabrik hat ihr Leben bestimmt, schließlich hat sie sie nach dem Tod ihres Ehemannes Oskar 18 Jahre lang erfolgreich weiter geführt. Wie war das möglich für eine Frau, die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren war?
In ihren Lebenserinnerungen dokumentiert Sophie Henschel das Bild einer Ehe gleichberechtigter Partner auf Augenhöhe: „Es war so nett, dass morgens und nachmittags die Geschäftsbriefe auf unseren Esstisch gelegt wurden und ich sie öffnen und lesen durfte. Die angenehmen legte ich dann stets obenauf. Ich lernte dadurch die Geschäftsverhältnisse viel besser kennen, wie das sonst der Fall gewesen wäre.“
Ihr Ehemann kümmerte sich um seine Arbeiter und ließ die ersten Wohnungen für deren Familien bauen.
1873 beschäftigte Henschel 1400 Arbeiter und lieferte 123 Lokomotiven ab. Kurze darauf begann die Wirtschaftskrise: 1876 wurden nur 69 Loks ausgeliefert, 1877 nur 43. Aber die Zeiten wurden besser: 1883 wurden bereits wieder 212 Loks und acht Kessel abgeliefert.

Jubiläums-Feiern

Vom Jahr 1885 berichtet Sophie Henschel: „Am 25. Juli (es war ein Samstag) war die 2000. Lokomotive fertig. Sie war schön geschmückt von 9 bis 18 Uhr (...) zu besichtigen. Die Arbeiter hatten einen freien Tag, den sie in verschiedenen Wirtschaften mit ihren Angehörigen feierten, da für eine gemeinsame Festlichkeit kein Lokal groß genug war. Oskar ließ ca. 15 000 Mark an Arbeiter, Invaliden und Arbeiterwitwen verteilen. Karl (der damals zehnjährige Sohn und spätere Firmenchef) war fast den ganzen Tag in der Fabrik und schenkte Beamten und Arbeitern, die er kannte, seine Fotografie, auf der er in Hemdsärmeln und Arbeiterschürze an einer Hobelbank arbeitete, auf welcher geschrieben stand „Der jüngste Arbeiter von Henschel & Sohn“. Die Auslieferung der 10 000. Lokomotive im Jahr 1910 erlebte Oskar Henschel nicht mehr, seit 1894 war seine Frau Sophie Chefin, Sohn Karl war 1900 als Teilhaber ins Unternehmen eingetreten. Das Lok-Jubiläum fiel mit dem 100-jährigen Firmenjubiläum zusammen.
Die Fabrikantin Sophie Henschel erinnert sich an die Feier für die Arbeiter in der Montagehalle – die Beamten der Firma feierten im Grand Hotel in Wilhelmshöhe: „Bei der Feier war sie (die Lok) so schön mit Tannenbäumen, Girlanden, Kränzen und elektrischen Lichtkörpern geschmückt. Hinter dem Rednerpult befand sich die 10 000. Lokomotive mit Blumen geschmückt, ein technisches Meisterwerk.“
Bei der Feier war auch ein Vertreter des Kaisers zugegen. Sophie Henschel erinnert in ihren Aufzeichnungen, wie er feierlich das Wort ergriff: „Im Auftrag seiner Majestät des Kaisers fordere ich Sie auf, sich mit mir in dem Ruf zu vereinigen: Die Firma Henschel & Sohn, deren Chefs, Beamte und braven Arbeiter – Hurra. (...) Die 200 geladenen Gäste begaben sich zum Festessen ins Rathaus.“

Sozialleistungen

Bei außerordentlichen Ereignissen wie Jubiläumslokomotiven, Sophie Henschels Geburtstagen, Karls Hochzeit und der 1000-Jahr-Feier der Stadt wurden allen Arbeitern außerordentliche Lohnvergütungen ausgezahlt. Zudem führte die Unternehmerin die Sozialleistungen, die ihr Ehemann für die Arbeiter und deren Angehörige in Gang gesetzt hatte, fort und baute sie aus. Die Fabrikantin fühlte sich für das Wohl der Arbeiter zuständig.
So wurde 1905 das firmeneigene Wohlfahrtshaus an der Ysenburgstraße gebaut, also in der Gegend, wo die meisten Henschelaner mit ihren Familien lebten. Im Wohlfahrtshaus gab es beispielsweise eine Kleinkinderschule, eine Badeanstalt und Waschküchen.
Sophie Henschel schreibt: „An meinem Geburtstag 1905 stiftete ich eine Fortbildungsschule für 300 bis 400 Lehrlinge der Henschelschen Fabrik (...) und 100 Freistellen für kränkliche Kinder unserer Arbeiter zur Kur in einem Badeort. Die durchschnittliche Arbeiterzahl betrug Ende Dezember 1906 4254, abgeliefert wurden 520 Lokomotiven.“ Für das Jahr 1907 hält sie fest: „In der Fabrik wurde die Arbeit mit Pressluft eingeführt. (...) 1909 wurden 704 Lokomotiven geliefert und die durchschnittliche Arbeiterzahl betrug 5476.“

Keine Ehrenbürgerin

Die Verdienste der Sophie Henschel für die Henschelaner und die Kasseler lassen sich noch weiter fortsetzen. Das registrierten damals auch die Stadtoberen – und doch war es eine andere Zeit, in der eine Frau an der Spitze einer so großen Fabrik stand.
Wie ungewöhnlich das war, zeigt sich beispielsweise in einem Erlebnis, von dem Sophie Henschel in ihren Lebenserinnerungen berichtet: Es geht um die Einweihung des neu gebauten Rathauses am 12. Juni 1909, infolgedessen sie in der Villa auf dem Weinberg Besuch bekam: „Der Oberbürgermeister kam in seiner goldenen Amtskette und überreichte mir einen Nelkenstrauß. (...) Es hätte die Absicht vorgelegen, mir das Ehrenbürgerrecht der Stadt zu verleihen. Es wäre dies aber noch nie einer Frau verliehen worden und hätten sich dem unüberwindliche Hindernisse entgegengestellt. Man hätte mein Porträt im Fries des Rathaus-Saales anbringen wollen, was ich jedoch ablehnte. Sehr dankbar war ich aber, dass der Magistrat dem Vaterländischen Frauenverein (dessen Vorsitzende sie war) gestattete, in den schönen Räumen einen Fünf-Uhr-Tee zu veranstalten.“
Die Lebenserinnerungen von Sophie Henschel sind in einem aufwendigen Buch mit Goldschnitt gebunden. Eines davon befindet sich im Eigentum des Henschelmuseums. Die HNA hat das exklusive Recht, Auszüge daraus zu veröffentlichen. Mit der heutigen Folge endet unsere Serie über die Lebenserinnerungen von Sophie Henschel.

Sophie Henschels Treue zur Kaiserin

Das Verhältnis des Ehepaars Henschel zum deutschen Kaiserhaus lässt sich im Mindesten als wohlgesonnen bezeichnen.
Häufig trafen die Familien aufeinander, in Kassel und auch bei Feierlichkeiten, etwa in Berlin. Im Herbst 1878 war die Kaiserfamilie in Kassel, wo „ein Kaisermanöver“ stattfand, wie Sophie in ihren Lebenserinnerungen berichtet. In diesen Tagen besuchte Kaiserin Auguste Victoria die Henschel-Fabrik. Elisabeth Henschel, die älteste Tochter, „überreichte ihr ein Bukett von Kornblumen und weißen Rosen, auch erhielt die Kaiserin eine Mappe mit Fotografien von Lokomotiven. Dieselbe hat sie dem Hohenzollernmuseum überwiesen“, schreibt ihre Mutter in den Lebenserinnerungen. Zum Andenken an ihren Aufenthalt „ließ die Kaiserin mir eine kunstvolle Brosche mit dem preußischen Adler mit dem Wunsche überreichen, dass mir dadurch eine Freude bereitet würde.“
1890 war das Ehepaar Henschel in Berlin. Beim Fest des Luisenordens saß Sophie Henschel beim Gottesdienst in der Schlosskapelle „unmittelbar hinter den fürstlichen Damen am Altar. Die Tafel (...) war der kaiserlichen ganz nahe, so konnte ich gut die Kaiserin sehen, welche neben dem Prinz von Wales, nachmaligem König Edward, saß. Der Kaiser, die Kaiserin (...) redeten mich bei der nach beendeter Tafel stattfindenden Coeur an.“
1901 erhielt Sophie Henschel anlässlich ihres 60. Geburtstages ein Bild der Kaiserin überreicht. Und als die Fabrikantin an einer Gürtelrose leidet, lässt die Kaiserin ein Blumenbouquet in die Villa schicken. 1902 erhält Sophie Henschel die Kaiserin-Augusta-Medaille, die jährlich nur zwei bis drei Personen verliehen wird. Sie schreibt: „Diese Auszeichnung, welche der Familie nach meinem Tode verbleibt, hat mich sehr gefreut.“
1907 war die Kaiserin wieder in Kassel. „Am 21. August ließ mir die Kaiserin telegrafieren, dass sie mich abends um 7 Uhr im Wilhelmshöher Schloss empfangen möchte.“ Dort wurde die Fabrikantin statt in den Salon ins Ankleidezimmer der Kaiserin gebeten, wo diese auf einem Ruhebett lag: Die Kaiserin hatte sich bei einem Sturz das Bein verletzt. „Ich war ja auch in früheren Jahren öfters aufgefordert worden zu kommen, erwähne es dieses Mal nur wegen der Nebenumstände“ – womit Sophie Henschel vermutlich das verletzte Bein und die Folgen meinte.

Fabrik-Jubiläum begann am Grab der Familie

Sophie Henschel hat sich mit der Fabrikantenfamilie, in die sie 1862 eingeheiratet hatte, vollkommen identifiziert.
1910, also beim 100. Firmenjubiläum, stand sie seit 16 Jahren der Firma Henschel & Sohn vor. Die Feierlichkeiten begannen mit einer „schönen, würdigen Gedenkfeier, welche die Sängervereinigung an der Henschelschen Ruhestätte auf dem Friedhof veranstaltete. Währenddessen war der Friedhof für Unbeteiligte nicht zugänglich.“
Sophie Henschel berichtet von einer „erhebenden Feier, welche allen Anwesenden unvergesslich bleiben wird. Die Beamten und Arbeiter hatten alle Gräber mit zart lila Ageratum bepflanzen lassen. Lorbeergirlanden umzogen das eiserne Geländer und schmückten den Obelisken, an dem ich Lorbeerzweige aus Bronze hatte anbringen lassen. Unter dem Relief von Oskar (1894 verstorben) hatte ich auch die Kranzschleife drucken lassen: „Die Liebe höret nimmer auf.“

Zuletzt geändert am: 24.05.2024 um 01:55

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